Erbach. Es war eine riesengroße Welle der Hilfsbereitschaft, die Bettina Badermann und ihrer schwerstbehinderten Tochter Annika in den vergangenen Wochen entgegenschlug. Bettina Badermann ist immer noch gerührt, wenn sie davon spricht. Seit zwei Wochen steht nun der rote Kleinbus in der Einfahrt vor dem Haus der Familie Badermann in Erbach und erleichtert den Alltag für Annika und ihre Mutter.
Bettina Badermann öffnet die Schiebetür und drückt einen Knopf auf einer Fernbedienung. Piepend fährt eine Rampe hervor und senkt sich ab. Jetzt kann sie Annikas Rollstuhl auf die Rampe schieben, diese per Knopfdruck wieder hochfahren, Annika in den Bus rollen und mitsamt ihrem Rollstuhl angurten. Das hydraulisch gefederte Spezialfahrzeug konnte mit Spenden von HELFT UNS LEBEN angeschafft werden, der Hilfsorganisation unserer Zeitung.
Mutter und Tochter können alleine wieder Ausflüge unternehmen
Mit dem neuen Fahrzeug können die Badermanns nicht nur wieder Ausflüge unternehmen, auch im Alltag ist es eine große Erleichterung. Bettina Badermann kann losfahren und Annika aus der Tagesförderstätte der Lebenshilfe in Kastellaun abholen, wenn sie wieder einen Krampfanfall hat. „Früher musste ich immer einen Fahrdienst organisieren“, sagt sie.
Bettina Badermann musste schon viele Schicksalsschläge verkraften und hat doch ihren Mut und ihre freundlich-warme und hilfsbereite Art nie verloren. Annika kam vor 25 Jahren als gesundes Baby zur Welt. Doch vier Tage nach ihrer Geburt erlitt sie eine Hirnhautentzündung und eine Blutvergiftung. In Folge dessen kam es zu einer schweren Hirnblutung. Annika lag 14 Tage im Koma. Ihr Gehirn wurde schwer geschädigt. Seitdem ist sie blind und hat keine Kontrolle über ihren Körper. Sie kann nicht stehen, nicht allein essen, und kaum sprechen. Hinzu kommen epileptische Anfälle.
Das Haus, in dem Bettina Badermann mit ihrem erwachsenen Sohn und ihrer Tochter Annika lebt, hatten damals ihre Eltern gekauft, als noch nicht zu erahnen war, dass Annika ein Leben lang auf den Rollstuhl und Hilfe angewiesen sein wird. Es ist nicht behindertengerecht eingerichtet, doch sie arrangieren sich in den beengten Räumen mit dem Rollstuhl. Bettina Badermanns Eltern sind beide an Krebs gestorben und besaßen keine Restschuldversicherung. Das Haus muss sie weiter abbezahlen. Auch Annikas Vater ist bereits verstorben.
Bis vor zwei Wochen war es Mutter und Tochter nicht einmal mehr möglich, gemeinsam Ausflüge zu unternehmen, denn Annika wiegt 50 Kilo. Bettina Badermann muss sie täglich mehrmals heben, vom Bett in den Rollstuhl und zurück. Sie hatte schon vier Bandscheibenvorfälle und lebt mit zwei künstlichen Kniegelenken. Kürzlich ist ein weiterer Bandscheibenvorfall hinzugekommen. Als Annika nachts wach wurde und Bettina Badermann sich zu ihr beugte, um sie hochzuheben, spürte sie wieder diesen stechenden Schmerz im Rücken. Und nichts ging mehr.
„Ich kenne das schon“, sagt sie, „mit der Zeit versteift sich die Stelle und es wird wieder besser.“ Die 57-Jährige kann auf ihre eigene Gesundheit wenig Rücksicht nehmen, sie kümmert sich rund um die Uhr um Annika, die im April 26 Jahre alt wird. Aber auch für ihre Mutter gibt es nun Lichtblicke im Alltag. Bevor der erste Artikel mit dem Spendenaufruf in unserer Zeitung erschien, war Bettina Badermann sozial isoliert, denn durch die Pflege ihrer schwerstbehinderten Tochter und das fehlende Spezialfahrzeug war es ihr kaum möglich, das Haus zu verlassen, geschweige denn Freundschaften zu pflegen.
Über Zeitung gefunden: Nach 40 Jahren meldet sich Schulfreundin
Vor Kurzem meldete sich unverhofft eine alte Schulfreundin, die sie mehr als 40 Jahre lang nicht gesehen hat. Über unseren Spendenaufruf, der auch im Internet veröffentlicht wurde, hatte ihre Schulfreundin sie ausfindig gemacht. „Sie hatte mich schon länger gesucht, aber da ich nicht bei Facebook vertreten bin, konnte ich nicht gefunden werden“, sagt Bettina Badermann.
An einem Sonntagnachmittag klingelte ihr Telefon. Eine leise, zögerliche Stimme meldet sich mit ihrem Namen. „Entschuldigung, wenn ich störe, kennen Sie eine Bettina?“ Viel haben sich die beiden zu erzählen. Ein halbes Leben. Ihre Freundin verspricht, sie bald besuchen zu kommen, wenn das Winterwetter vorbei ist.
Seitdem hat Bettina Badermann auch wieder Kontakt zu fast allen damaligen Klassenkameraden, mit denen sie in Rüsselsheim zur Schule gegangen ist, erzählt sie und ihre Augen strahlen. Ihre Schulfreunde treffen sich einmal im Monat dort zu einem Stammtisch: „Da kann ich zwar leider nicht mit dabei sein, aber es gibt eine Whatsapp-Gruppe, in der sich alle regelmäßig austauschen.“ Ihre Klassenkameraden hatte Bettina Badermann am Tag der Mittleren Reife das letzte Mal gesehen. „Jetzt ist es ein bisschen so, als wäre ich wieder mit dabei. Ich kann mitlesen und halte so den Kontakt.“
Die Jungfernfahrt im neuen Auto haben Bettina Badermann und Annika bereits hinter sich. Es ging gemeinsam zum Einkaufen. „Ich war sehr aufgeregt, am Ende aber erleichtert, dass wir endlich wieder gemeinsam losfahren können und alles funktioniert hat“, sagt Bettina Badermann. Auch Annika gefällt es, mit ihrer Mutter wieder unterwegs zu sein. „Sie kennt das Ratschen der Gurte bereits vom Fahrdienst, der sie zur Tagesförderstätte in Kastellaun gebracht hat. Sobald sie dieses Geräusch hört, lacht sie“, erzählt ihre Mutter. Die Fahrt mit dem neuen Auto zum Einkaufen war auch für Annika ein besonderes Erlebnis: „Sie mag es, unter Menschen zu kommen. Sie liebt die leise Musik und die Stimmen im Hintergrund“, erzählt ihre Mutter.
Durch die zahlreichen Spenden aus der Bevölkerung an die Stiftung unserer Zeitung HELFT UNS LEBEN wurde dies erst möglich gemacht: „Zwei junge Frauen, Alina Lambrich und Celine Oppermann, sind mit der Sammelbüchse durch den Ort gegangen“, berichtet Bettina Badermann gerührt. Erbachs Ortsbürgermeister Paul Schirra hatte organisiert, dass der Erlös der Weihnachtsfeier in der Gemeinde gespendet wird, die Theatergruppe aus Erbach hatte gespendet und extra zu diesem Zweck eine Generalversammlung einberufen, die freiwillige Feuerwehr aus Erbach, die Frauen der Kleiderkammer Rheinböllen und die freiwillige Feuerwehr aus Mörschbach – sie alle zögerten nicht lange und wollten Familie Badermann helfen.
Große Dankbarkeit und Freude über die kleinen Dinge im Alltag
Wenn es wieder wärmer wird, möchte Bettina Badermann mit ihrer Tochter einen Ausflug an den Rhein nach St. Goar machen. „Dort gibt es eine ganz tolle Pommesbude. Da können wir uns an den Rhein stellen und gemeinsam Würstchen essen“, sagt sie. Denn es sind schon die kleinen Freuden um Alltag, die Familie Badermann sehr viel bedeuten. „Gemeinsam zum Rhein gefahren sind wir bestimmt seit vier oder fünf Jahren nicht mehr“, sagt Bettina Badermann. Deshalb ist es ihr auch eine Herzensangelegenheit, allen zu danken, die sich an der Spendenaktion beteiligt haben.
Und weil so viele Spenden bei HELFT UNS LEBEN eingegangen sind, ist sogar noch Geld übrig, um die steile, geschotterte Auffahrt vor Familie Badermanns Haus zu befestigen, die für Annika und ihre Mutter mit dem Rollstuhl nicht zu bewältigen ist.
Foto: Das Schicksal der schwerstbehinderten Annika und ihrer Mutter hat eine ganze Region berührt. Ohne rollstuhlgerechtes Auto hatten sie keine Möglichkeit mehr, das Haus zu verlassen. Seit zwei Wochen hat sich ihr Leben dank zahlreicher Spenden an HELFT UNS LEBEN grundlegend geändert – und Bettina Badermann hat nach über 40 Jahren wieder Kontakt zu ihrer früheren Schulklasse. Eine Schulfreundin hatte sich auf unseren Artikel gemeldet. Foto: Denise Bergfeld